Wer entscheidet, wenn sich die Eltern über die Impfung der Kinder nicht einigen können?

Kein Vorrang der Meinung eines Elternteils

Eltern üben die elterliche Sorge unabhängig von ihrem Zivilstand im Regelfall gemeinsam aus. Die elterliche Sorge (Art. 296 ff. ZGB) ist das Recht und die Pflicht, für das Kind zu entscheiden, wo es das noch nicht selbst kann. Wer die elterliche Sorge innehat, entscheidet über Schul- und Berufswahl, religiöse Erziehung, medizinische Eingriffe usw. Eltern haben auch nach der Scheidung und beim Getrenntleben im Regelfall die gemeinsame elterliche Sorge inne, unabhängig davon, bei welchem Elternteil das Kind wohnt.

Die Frage der Impfung des Kindes ist ein Entscheid, den Eltern aufgrund ihrer elterlichen Sorge gemeinsam fällen müssen. Wie sieht es nun aus, wenn sich die Eltern nicht einig werden? In diesem Fall darf sich kein Elternteil über die Meinung des andern hinwegsetzen. Unterschiedliche Auffassungen über Erziehungs- und Betreuungsfragen sind als Teil der Lebenswirklichkeit bei gemeinsam ausgeübtem Sorgerecht im Prinzip hinzunehmen. Nach dem Willen des Gesetzgebers stehen die Eltern in der Pflicht, alle Kinderbelange gemeinsam zu regeln, ohne dass ein Elternteil einen irgendwie gearteten Vorrang oder Stichentscheid für sich in Anspruch nehmen kann (Botschaft zu einer Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Elterliche Sorge] vom 16. November 2011, BBl 2011 9106).

Behörde darf nur bei Gefährdung entscheiden

Das Zivilgesetzbuch sieht kein besonderes Verfahren für den Fall vor, da sich die Eltern in einer wichtigen und gemeinsam zu fällenden Entscheidung der elterlichen Sorge nicht einigen können. Ein behördlicher Entscheid in einer solchen Angelegenheit kommt nur in Frage, wenn die Weiterführung des bisherigen Zustands oder der elterliche Konflikt als solcher einer Gefährdung des Kindeswohls gleichkommt, so dass die Voraussetzungen für die Anordnung von Kindesschutzmassnahmen erfüllt sind (Art. 307 Abs. 1 ZGB). Mit anderen Worten: Nur wenn das Kindeswohl durch die Patt-Situation der Eltern gefährdet ist, können Kindesschutzmassnahmen bei der zuständigen Behörde (KESB oder Gericht) verlangt werden. Das Wohl des Kindes ist gefährdet, sobald nach den Umständen die ernstliche Möglichkeit einer Beeinträchtigung des körperlichen, sittlichen oder geistigen Wohls des Kindes vorauszusehen ist (CYRIL HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts und des übrigen Verwandtschaftsrechts, 5. Aufl., 1999, S. 206).

Vorrang der Elternautonomie

Die Familien- bzw. Elternautonomie geniesst in Bezug auf alle Kinderbelange gegenüber staatlichen Interventionen Vorrang (BGE 144 III 481 E 4.5 S. 489; 142 III 481 E. 2.5 S. 488). In diesem Sinn ist eine von beiden Eltern getroffene Entscheidung, ihr Kind nicht zu impfen, grundsätzlich zu respektieren (vgl. BGE 5A_789/2019; die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssten, dass die Behörde sogar gegen den gemeinsamen Willen der Eltern intervenieren müsste, werden vom Bundesgericht ausdrücklich offen gelassen).

Empfehlung bei Masern

Der Schutz der Gesundheit des Kindes ist nicht nur Teil, sondern geradezu Voraussetzung für die gedeihliche Entwicklung des Kindes. Die Nichtvornahme einer Impfung kann grundsätzlich eine ungenügende Gesundheitsvorsorge darstellen und darum das Kindeswohl gefährden. Dies hat das Bundesgericht dem Grundsatz nach in einem Urteil aus dem Jahr 2020 festgehalten. Damals hatte es in einem Fall aus dem Kanton Basel-Landschaft darüber zu entscheiden, ob die Mutter unmündiger Kinder auf Antrag des Kindsvaters zu verpflichten ist, die Kinder gegen Masern impfen zu lassen (Urteil des Bundesgerichts vom 16. Juni 2020, 5A_789/2019). Bei Masern hat das Bundesgericht die Frage bejaht. Jedenfalls darf aus dem Fehlen eines gesetzlichen Impfobligatoriums nicht der (Umkehr-) Schluss gezogen werden, dass der Verzicht auf die Masernimpfung das Wohl der betroffenen Kinder nicht gefährdet, so das Bundesgericht. Allein der Umstand, dass eine Impfung nicht für obligatorisch erklärt, sondern von der eidgenössischen Gesundheitsbehörde lediglich empfohlen wird, bedeute nicht, dass es sich auch mit dem Kindeswohl verträgt, auf die Impfung gegen die fragliche Infektionskrankheit zu verzichten. Das Bundesgericht ist zum Schluss gekommen, dass Eltern, die Kinder nicht gegen Masern impfen lassen möchten, die Kinder einer konkreten Gefahrenlage aussetzen (ausgeprägte und anhaltende Schwächung des Immunsystems, schwere Komplikationen, erhöhte Sterblichkeit etc.). Dieses Gefährdungsbild verträgt sich nicht mit einer Pattsituation der Eltern. Das bedeutet, dass die zuständige Behörde berufen ist, in dieser Frage anstelle der Eltern zu entscheiden. Dabei hat sie in pflichtgemässer Ausübung ihres Ermessens alle für die Beurteilung wesentlichen Elemente in Betracht zu ziehen. Empfiehlt das BAG als fachkompetente eidgenössische Behörde die Durchführung der Masernimpfung, so soll diese Empfehlung für den Entscheid der Behörde Richtschnur sein. Eine Abweichung davon ist nur dort am Platz, wo sich die Masernimpfung aufgrund der besonderen Umstände des konkreten Falles nicht mit dem Kindeswohl verträgt (Urteil des Bundesgerichts vom 16. Juni 2020, 5A_789/2019, E. 6.2.6).

Was gilt bei Covid-Impfung

Es stellt sich nun die Frage, wie dieser Entscheid des Bundesgerichts im Zusammenhang mit Masern auf die Covid-Impfung zu übertragen ist. Gemäss Bundesgericht ist auf die Empfehlungen des BAGs als Richtschnur abzustellen. Allerdings darf die Behörde die Empfehlungen nicht unbesehen übernehmen, sondern muss diese in Ausübung ihres pflichtgemässen Ermessens anwenden, also sämtliche bekannten Aspekte im allgemeinen und in Bezug auf den Einzelfall berücksichtigen. Zur Zeit gilt die Impfempfehlung des Bundesamts für Gesundheit für Kinder von 5 bis 11 Jahren mit "individueller Nutzen-Risiko-Abwägung", und für Jugendliche ab 12 Jahren wird die Impfung empfohlen.

Kinder von 5 bis 11 Jahren

Das aktuelle Merkblatt des BAGs für Kinder von 5 bis 11 Jahren gibt folgende Empfehlung:

Wir empfehlen die Covid-19-Impfung für Kinder von 5 bis 11 Jahren, deren Eltern/Erziehungsberechtigte diese nach einer individuellen Nutzen-Risiko-Abwägung für ihr Kind wünschen. Es gibt demnach keine generelle Empfehlung des BAGs für die Impfung. Vielmehr gilt pioritär der Wunsch der Eltern und eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung.

Diese Empfehlung gilt besonders für a) Kinder, die wegen einer chronischen Krankheit bereits stark gesundheitlich beeinträchtigt sind, um möglichst jede zusätzliche Infektion/Krankheit zu verhindern; b) Kinder, die enge Kontakte (z. B. Haushaltsmitglieder) von besonders gefährdeten Personen sind, welche sich selbst mit der Impfung nicht ausreichend schützen können (z. B. Menschen mit geschwächtem Immunsystem). Insbesondere sprechen also zwei Aspekte für eine Impfung, nämlich wenn das Kind wegen einer chronischen Krankheit stark gesundheitlich beeinträchtigt ist, oder wenn andere Personen im Haushalt besonders gefährdet sind. Daraus ist zu schliessen, dass seitens des BAGs - im Gegensatz zur Situation bei Masern - keine grundsätzliche Empfehlung zur Impfung von Kindern zwischen 5 und 11 Jahren existiert. Für jüngere Kinder wird die Impfung ohnehin nicht empfohlen (bzw. sie ist gar nicht zugelassen).

Das BAG verdeutlicht den Nutzen der Impfung, weist aber darauf hin, dass "eine Infektion mit dem Coronavirus bei Kindern fast immer mild und komplikationslos verläuft", und Kinder nicht zu den durch das Coronavirus besonders gefährdeten Personen gehören.

Somit ist die Situation für Kinder bei Covid 19 nicht mit jener bei Masern zu vergleichen. Die Gefährdung des Kindeswohls ist viel geringer, eine generelle Impfempfehlung gibt es nicht. Die Behörde (KESB oder Gericht) kann demnach nicht von einer Gefährdung des Kindeswohls ausgehen, wenn sich die Eltern über die Impfung des Kindes nicht einig werden. Die Anordnung von Massnahmen gemäss Art. 307 Abs. 1 ZGB ist darum nicht möglich. Wenn nur ein Elternteil für eine Covid-Impfung des Kindes ist, der andere jedoch dagegen, kann das Kind nicht geimpft werden. Anders sähe die Situation nur aus, wenn das Kind wegen einer bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigung zu einer Risikogruppe gehört und die Impfung im konkreten Fall sich als geboten erweist. Ebenfalls nicht gefährdet ist das Kindeswohl, wenn andere Personen im Haushalt zu Risikogruppen gehören - auch in diesem Fall könnte u.E. ein behördlicher Entscheid den elterlichen Entscheid nicht ersetzen und es müssten andere Lösungen als die Impfung gesucht werden, wenn ein Elternteil gegen die Impfung ist. Unsere Auffassung steht damit im Gegensatz zur Auffassung der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz KOKES gemäss Merkblatt vom 22.1.2021.

Jugendliche ab 12 Jahren

Für Jugendliche ab 12 Jahren gibt das aktuelle Merkblatt des BAGs folgende Empfehlung:

- allen Personen ab 5 Jahren wird die Impfung empfohlen (was in dieser generellen Form allerdings klar dem obigen Merkblatt für 5 bis 11-jährige widerspricht)

- eine schwere Erkrankung und andere gesundheitliche Probleme kommen in deiner Altersgruppe sehr selten vor

- das Risiko, dass du dich ansteckst und in Isolation gehen musst ist viel kleiner, ebenso das Risiko, dass du andere Personen ansteckst.

Die beiden letztgenannten Punkte zeigen, dass die Nichtimpfung des Jugendlichen keine Gefährdung des Kindeswohls ist, da gesundheitliche Probleme sehr selten sind und die Frage der Isolation per se keine Gefährdung des Kindeswohls (allerdings eine indirekte individuell zu beurteilende und zu gewichtende Folge) darstellt . Gegen den Willen eines Elternteils kann darum die Behörde unseres Erachtens (KESB oder Gericht) keine Impfung gestützt auf Art. 307 Abs. 1 ZGB anordnen.

Es muss beachtet werden, dass Jugendliche ab 12 bis 14 Jahren für den Entscheid, ob sie eine Impfung machen möchten, im allgemeinen als Urteilsfähig (zur Altersgrenze: s. unten) anzusehen sind. Es kommt also im Wesentlichen auf die eigene Meinung des Jugendlichen an: er kann selbst entscheiden.

Jugendliche können sich gegen den Willen der Eltern impfen lassen

Wie verhält es sich aber, wenn sich die Eltern einig sind, ihr Kind nicht zu impfen, das Kind jedoch die Covid 19-Impfung möchte?

Diesfalls ist die Urteilsfähigkeit des Kindes ausschlaggebend. Die Urteilsfähigkeit bemisst sich nicht an einer sturen Altersgrenze. Vielmehr hat der Arzt/die Ärztin im Einzelfall zu beurteilen, ob das Kind in der Lage ist, vernunftgemäss zu handeln. Wird die Urteilsfähigkeit bejaht, kann dem Willen des Kindes entsprechend - und gegen den Willen der Eltern - die Impfung durchgeführt werden.

(21.3.2022) RS